Tränen im Land des Lächelns

Ein Reisebericht aus Thailand

Ich unternehme diese Reise nach Thailand im Frühjahr 2014. Ich war mir im letzten Jahr noch sicher, dass ich nach 10 Jahren vielleicht mal wieder ein anderes Reiseziel aussuchen würde. Nun, das hat dann wohl nicht sollen sein. Dennoch wird diesmal wieder alles anders sein. Seit Monaten liefern sich opponierende politische Gruppierungen offene Kämpfe in den Straßen von Bangkok, Protestcamps blockieren alle wichtigen Kreuzungen in der Metropole, das normale Verkehrschaos in diesem abgasverseuchten Glutofen wird noch krasser sein als ich es je zuvor erlebt habe – aber es ist meine Stadt. Ich möchte dorthin. Schließlich ist es in den letzten Jahren eine zweite, fremdartige Heimat für mich geworden.

KNÖCHELTIEF IN ELEFANTENSCHEISSE

Es ist ruhig an der Sukhumvit Road in der Nana-Gegend von Bangkok, denn die vormals Tag und Nacht enorm befahrene Straße ist durch ein Protestcamp 500 Meter von hier entfernt zur Sackgasse geworden.

Deutlich weniger Touristen als üblich schlendern über den Nightmarket oder sitzen an den mobilen Bars am Straßenrand.  Die Essensverkäufer, die Bargirls, die Taxifahrer, alle stöhnen über das Fernbleiben der Touristen. Hier hat niemand Interesse an den Protestcamps, hier wünscht man sich endlich eine Normalisierung der Zustände, damit das Leben wie gewohnt weitergehen kann und genug Geld reinkommt, um die Familie zu ernähren, denn fast jeder hier lebt von der Hand in den Mund. Während mir mein Taxifahrer erzählt, das gestern seinem Freund – einem Polizisten – bei einer gewalttätigen Konfrontation von Regierungsgegnern und Polizei ein Fuß von einer Granate abgerissen wurde und er jetzt zum Krankenhaus fährt, um ihn zu besuchen, kommen mir Zweifel, ob ich diesen Urlaub in meinem geliebten Thailand wirklich genießen werde. Inwieweit wird die zunehmende Gewalt auf den Straßen meine Reise beeinflussen?

Es ist Nacht. Es ist immer noch heiß. Ziellos schlendere ich schwitzend zwischen den halbleeren Verkaufsständen und den Plastikhockern der improvisierten Restaurants am Straßenrand umher. Ich versuche, meine leicht gedrückte Stimmung aufzuhellen und bestelle einige Bier und thailändische Whiskeys in einer Bar an der Sukhumvit Road. Die Bar ist ein restaurierter, aufgemotzter VW Bus Typ 2, erhellt von dutzenden blinkenden Lichterketten, ausstaffiert mit zahllosen Flaschen voll mit buntem alkoholischem Inhalt. Aus dem Inneren dieser magischen Bar wummern betäubende Bassbeats, und ein Ventilator bläst mir mit Windstärke 12 ins Gesicht. I love it. An diesem improvisierten Tresen begegne ich einem jungen norwegischen Seemann mit seiner thailändischen Braut, und beide haben viel zu erzählen. Über ihre Beziehung, über das Reisen, über ihre potenzielle Zukunft. Ich spiele abwechselnd mit ihnen „Vier Gewinnt“ und verliere jede Runde, ich bin wohl noch nicht recht im Training. Als ich nach gefühlten 10 Litern Bier endlich mal pinkeln muss, erfahre ich, dass der Toilettenwagen, der sonst hier um die Ecke stand, sein Business wegen Mangels an Touristen aufgegeben hat, und die Waschräume in der angrenzenden Shoppingmall sind auch schon geschlossen. Aber der freundliche Barmann meint, es gäbe eh keine Polizisten in der Gegend, weil sie die Protestcamps bewachen müssten, also führt er mich über die sonst so stark befahrene Sukhumvit zum grünen Mittelstreifen der Straße und meint: „You can pee pee here, no problem!“ Während ich meine Hose also mitten auf der Hauptstraße aufknöpfe, wundere ich mich über den besonders weichen Untergrund. Und dann fällt mir ein, dass ich am frühen Abend beobachtet hatte, wie der Mittelstreifen von einem Tankwagen gedüngt wurde. Während ich so vor mich hinpiesele, stehe ich also knöcheltief in Elefantenscheiße. Tröööt! Willkommen zuhause in der Stadt der Engel.

DER AMERIKANER, DER NICHT UMFIEL, ABER INS KRANKENHAUS MUSSTE

Als ich mich am nächsten Nachmittag in einem schönen, luftigen Biergarten mitten in Bangkok über meinen delikaten gebratenen Reis mit Ananas und Chicken freue, stiert ein stark tätowierter junger Mann immer wieder zu mir rüber. Ich denke mir, dass das nicht an mir liegen muss, sondern vielleicht ist ja auch der Rotwein schuld – in der Stunde, seit ich hier verweile, hat er gefühlte 20 Gläser geleert. Vielleicht kann er gar nicht mehr anders gucken, wer weiß, was der noch alles intus hat. Als wenige Minuten später die gut gekleidete Managerin des Restaurants zu ihm kommt und den Hocker neben ihm in Beschlag nimmt, staune ich dann doch nicht schlecht über sein noch sehr flüssiges Amerikanisch, und während die beiden sich angeregt unterhalten, kippt er in Rekordzeit noch 5 weitere Gläser Wein. Respekt! Dann entschuldigt er sich, sagt er wolle zur Toilette – und vor meinen Augen beginnt ein unglaubliches Schauspiel:

Offensichtlich wird der junge Mann während des Aufstehens von seinem Hocker bewusstlos! Und versinkt, halb sitzend, halb stehend, in totale Stasis. Wie eingefroren. Film angehalten. Bevor er nun wie ein Brett zu Boden fallen kann, stützt ihn die erstaunlich hochgewachsene Thailänderin überraschend souverän ab, so dass er eine volle Minute in einer absurden Position verharrt, während die Dame versucht herauszufinden, ob er noch irgendwie ansprechbar ist.

Ich habe schon das Gefühl, er sei bereits verstorben, denn in diesem Moment entleert sich mit einem lauten Platschen seine Blase, es spritzt nur so aus seiner Jeans wie ein Wasserfall zu Boden! Aber die geistesgegenwärtige Managerin tritt in ihrem langen, hochgeschlitzten Kleid einen eleganten Schritt zur Seite und verhindert somit millimetergenau, dass sie völlig eingesaut wird. Dabei stützt sie den just Verstorbenen nach wie vor in seiner unfassbaren, nahezu aufrecht stehenden Position. Leise, aber bestimmt, weist sie das Personal an, nach einem Arzt zu schauen, ein Taxi zu suchen, die sieben Sachen des Amerikaners zusammenzupacken, die Rechnung fertigzumachen und sich um die Sauerei zu kümmern. Doch nun krampft sich plötzlich der gesamte Körper des offensichtlich schwer intoxikierten Mannes zusammen, und er spuckt einen gewaltigen Schwall Rotwein, dem die Managerin wiederum durch einen weiteren tänzelnden Schritt geschickt ausweichen kann, während sie ihn dabei immer noch festhält – ein wahres Kunststück! Der Amerikaner scheint nun sein Bewusstsein –  zumindest sporadisch – zurückzugewinnen, und er murmelt etwas wie „Mmmmust go toilet“. Die Managerin antwortet ihm ganz lapidar: „No problem. You peepee already!“

Da immer noch kein Arzt unter den Gästen oder in der Nachbarschaft aufzutreiben ist, verfrachtet die Managerin den Zombie kurzerhand in ein Taxi, dessen Fahrer in Windeseile den Fond mit Plastikfolie ausgekleidet hat, und sie begleitet ihn persönlich zum nächstgelegen Krankenhaus, nicht ohne ihm zuvor das Geld für seine Getränkerechnung aus dem Portemonnaie gezogen zu haben und ihm dafür einen Rechnungsbeleg ins Scheinfach zu stecken.

DIE LANGE GESCHICHTE EINES KURZEN AUSFLUGS MIT MR. BAD DRIVER

Ich reise auf die schöne Insel Koh Chang nahe der kambodschanischen Grenze, um ein paar entspannte Tage mit meiner Freundin Pat zu verbringen. Pat kommt ursprünglich aus Khon Khaen, einer Stadt auf dem Khorat-Hochplateau im Nordosten Thailands. Allerdings arbeitet sie ganzjährig auf der Ferieninsel, in einem glücklicherweise nicht allzu überlaufenen Straßendorf am Kai Bae Beach. Als Willkommensgeschenk für mich gibt es ein großartiges Barbecue, welches Pat zusammen mit ihr Freundin Ping für mich veranstaltet: Kiloschwere Schweinerippen und große, herrlich frische Fische werden abwechselnd auf den improvisierten Grill am Straßenrand gelegt, wir sitzen vor Pings Beauty Salon, das Fleisch ist aromatisch und scharf, der Fisch ist einfach köstlich, die Mädels füttern mich, damit ich ja keine Gräten verschlucke, dazu fließt das eisgekühlte Chang Bier in Strömen, wir singen laut zu thailändischen Schlagern aus dem Ghettoblaster, und laden den französischen Zauberer, der zufällig des Weges kommt, an unseren Tisch ein: Mit ein paar simplen Tricks versetzt er die Girls in nicht enden wollendes Staunen, zieht ihnen Münzen aus den Ohren und Seidentücher aus dem Dekolleté. Am Ende wanken wir vollgefressen und nahezu abgefüllt runter zum Strand, spazieren unter dem hellsten Sternenhimmel des Universums und nehmen einen Absacker in der Strandbar. Ein wahrlich berauschendes Willkommensfest am Kai Bae Beach!

Der für den nächsten Tag beschlossene Ausflug muss wegen Lazyness und Lieber-am-Pool-Abhängen verschoben werden, aber das gibt uns Zeit, das Ganze etwas besser zu planen – das ist allerdings nur mein Bedürfnis, denn als Thai macht man eigentlich alles ungeplant und planlos, und meist funktioniert es trotzdem – oder in diesem Land gerade deswegen. Ich schlage vor, dass wir uns einen Scooter mieten, um die Südspitze der Insel zu erkunden. Doch Pat traut mir und sich selbst nicht zu, mit dem Roller sicher durch den Dschungel und über die Gebirgsstraßen zu kommen – schließlich habe ich null Routine im Zweiradfahren und sie fürchtet, dass wir einfach hinten überkippen und umfallen, wenn ich meine über 100 Kilo auf den Sozius wuchten würde … also einigen wir uns darauf, ein Auto zu mieten: Ich soll fahren, da sie keinen Führerschein besitzt, dafür verspricht sie, sich um alles andere zu kümmern und das Fahrzeug zu organisieren. Sie telefoniert ein paar Minuten und meint schließlich, am nächsten Morgen um 11 Uhr würde das Auto bereit stehen.

Als ich nachdem Frühstück unsere Ausflugstasche zusammenpacke und mir meinen Pass und den Führerschein schnappe, sagt Pat zu mir, dass ich die Papiere nicht brauchen würde – und ich frage mich, was das für eine vertrauensvolle Autovermietung sein muss? Es stellt sich heraus, dass sie den privaten PKW ihrer Freundin Ping organisiert hat, einen nagelneuen Toyota-Hyundai-Daihatsu-irgendwas, eine asiatische Limousine im Kleinwagenformat, in schickem, in der Sonne glänzendem Schwarz, so dass mir beim ersten Türöffnen aus dem Innenraum eine Hitzewelle von gefühlten 90 Grad entgegenweht. Professionell – und unter dem ungläubigen Staunen der Mädels – umrunde ich das Fahrzeug und kicke gegen die Reifen – macht man doch so, um den Luftdruck zu prüfen? Ich schaue nach eventuell vorhandenen Schrammen, Kratzern oder Schäden – nicht dass es nachher noch Ärger gibt.

Natürlich steige ich zuerst auf der falschen Seite ins Fahrzeug, habe ich doch kurz vergessen, dass es ja ein Rechtslenker ist, denn in Thailand wird auf der linken Straßenseite gefahren. So habe ich den Eindruck des supererfahrenen alten Fahrerhasen sofort zunichte gemacht. Also lächele ich, bereits schweißüberströmt und völlig durchnässt, dieses kleine Ungeschick einfach weg, schwinge mich auf die andere Seite und breche mir beim Einsteigen erstmal die Beine und das Genick, da Ping ja nun von kleiner Statur ist und der Sitz auf die vorderste Raste und höchste Höhe eingestellt ist … aber irgendwann finde ich, bereits völlig gestresst, auch das – natürlich auf der falschen Seite angebrachte – Zündschloss um – endlich! den Motor und damit auch die Klimaanlage in Gang zu setzen. Pat steigt gelassen zu und fragt mich, ob alles okay sei, was ich lügend bejahe, während ich verzweifelt nach den Hebeln suche, um den Sitz in eine menschenwürdige Position zu bringen. Das gelingt mir nur halb, immerhin schaffe ich es, den Sitz zurückzuschieben, aber mit dem Kopf klebe ich immer noch direkt am Fahrzeughimmel. Der Versuch, erst einmal elegant loszufahren, um mich während der Fahrt mit den Eigenheiten der Kleinwagenlimousine thailändischen Zuschnitts vertraut zu machen, misslingt abermals, als ich, statt dem Blinkerhebel zu bedienen, den Scheibenwischer auf höchster Stufe in Gang setze, der mit einem unglaublichen Quietschen über die trockene Scheibe hoppelt und dabei den Staub so verschmiert dass ich eigentlich gar nichts mehr sehen kann. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum die Fahrt in der Folge fast zum völligen Blindflug wird: Aufgrund der viel zu hohen Sitzposition schaue ich nicht aus der Windschutzscheibe, sondern direkt auf das schwarz getönte, undurchsichtige obere Drittel der Frontscheibe und sehe im Gegenlicht eigentlich gar nichts. Verstärkt wir dieser sehbehindernde Effekt vor allem noch durch das überdimensionierte buddhistische Blumengebamsel, welches am Innenspiegel hängt und fast die Hälfte der Frontsicht einnimmt … und sich bei jeder Linkskurve komplett vor mein Gesichtsfeld einpendelt. Buddha hilf! denke ich und fahre todesmutig durch sie erste Haarnadelkurve. „Snake road, very funny!“ schreit Pat vergnügt, während ich unter Einsatz all meiner Fahrkünste und meines Lebens versuche, das Fahrzeug auf der Straße zu halten.

Nachdem ich mich an all diese erschwerten Bedingungen unseres Ausflugs halbwegs gewöhnt habe, bin ich begeistert von der Schönheit des Dschungels, der erhabenen Aussicht von diversen View Points, dem umwerfenden Snack in einem paradiesischen Beach Restaurant, einem fantastischen Spaziergang auf einem hölzernen Steg rund um die Südspitze der Insel, den Ausblicken aufs Meer, dem Blau, dem Grün, den unendlichen Gelb-braun-ockernen Farbnuancen der Sandsteinfelsen im Gezeitenspiel rund um das Kap.

Am Ende des Trips kommen wir auf eine ebene, wenig kurvige einspurige Straße, an deren Ende das letzte Resort der Insel liegen soll, in einem Marschland an einem langen weißen Strand, wo alle Hotelzimmer in Booten und auf Pontons untergebracht sind, die im ruhigen Wasser der Bucht von Thailand dümpeln. Auf dieser ungefährlichen Straße will ich endlich die Gelegenheit nutzen, die Sitzhöhe meines Driver’s Seat anzupassen, um endlich auf Augenhöhe mit dem Sichtfenster in der Frontscheibe zu sein. Und, natürlich genau hier, während ich an den Hebeln rumfummeln muss, passiert es: Mit Pings nagelneuem Fahrzeug komme ich von der schmalen Betonpiste ab, beide beifahrerseitigen Räder rutschen von der Straße, das Scheißbankett liegt unter dem hohen Gras mindestens einen halben Meter tiefer als die Piste, die ganze Karre schlittert Sekunden lang auf dem Unterboden und den Achsen über den Beton, es kreischt ohrenbetäubend, ich befürchte jede Sekunde, dass mir der Spoiler, die Bodenverkleidung des Motors oder die Reifen um die Ohren fliegen, und es dauert ewige 5 Sekunden, bis ich die Scheißkarre wieder komplett auf der Straße habe. Was waren noch die Gründe, warum bei Mietwagen auf Urlaubsinseln Räder und Unterboden nicht mit versichert sind? Ich will im Unterboden versinken, so peinlich ist mir das, aber in meiner immer noch viel zu hohen Sitzposition mit dem Kopf in der Decke des Fahrzeugs ist das leider völlig unmöglich. Pat lacht erst mal laut und versucht mich zu beruhigen, es sei doch zum Glück nichts Schlimmes passiert, und legt ihre schlanke Hand auf mein zitterndes und völlig durchgeschwitztes Knie.

Von außen betrachtet wirkt das Fahrzeug tatsächlich unbeschädigt. Aber ich traue mich überhaupt nicht, drunter zu schauen. Stattdessen fahren wir die nächste Beachbar an, Wagen abgestellt und schnell ein Bier gegen den Schock. Und einen leckeren Snack. Und sich von der kühlen Brise am Strand umschmeicheln lassen. Herrlich. Als wir zum Auto zurückkehren, wird mir schnell klar, dass Verdrängen nichts nützt. Der vordere Reifen ist nicht nur platt, sondern hängt in Fetzen. Die Felge des hinteren Rades ist völlig verzogen. Nur zum Spaß schaue ich im Kofferraum nach und entdecke ein Reserverad. Und einen Beutel mit Werkzeug für den Radwechsel. Darin befinden sich Spielzeugwerkzeuge in Zahnstochergröße. Ich kann mich so gerade noch beherrschen, um die Tools, mit denen man nicht mal ein Bobbycar reparieren könnte, nicht in den Tümpel hinter mir zu pfeffern. Abgesehen davon, dass ich es ohne Herzinfarkt sowieso nicht schaffen würde, bei 45 Grad im Schatten ein Rad mit Spielzeugwerkzeug zu wechseln. Zumal wir mitten in der Sonne stehen. Aber mit Pats Hilfe gelingt es, eine ganze Armee von Arbeitern, die mit einem nur von Blumendraht zusammengehaltenem 50 Jahre alten Pick-Up an uns vorbeituckert, zu stoppen und um Hilfe zu bitten. Erstaunlich zügig organisieren die Jungs einen LKW-Wagenheber, panzerfaustgroße Schraubwerkzeuge und einen erfahren wirkenden Mechaniker in Blaumann, Anorak und Wollmütze. Zu dritt springen die Jungs auf der 2 Meter langen Schraubenschlüsselverlängerung herum, bis sich die erste Radmutter löst. Während ich nur vom Zusehen furchtbar schwitzend unsere gesamten 10 Liter Wasservorräte aufbrauche, schafft die Thai Crew es tatsächlich, innerhalb weniger Minuten das Vorderrad zu wechseln, das Hinterrad zu inspizieren – „Not good, but can drive“ und uns so am Ende der Welt das Leben zu retten – oder zumindest die Weiterfahrt zu sichern. Dankbar investiere ich meine letzten Thailändischen Baht in ein großzügiges Trinkgeld und bin froh, dass die Karre fährt und ignoriere die Spur aus verschiedenen Flüssigkeiten, die wir bei der Abfahrt hinter uns lassen.

Die Fahrt zurück ins Dorf läuft zum Glück ohne weitere Zwischenfälle, ich traue mich eh nicht mehr anzuhalten und bin heilfroh, als wir neben Pings Beautysalon einen Parkplatz auf einem Grünstreifen finden, damit ich nicht sofort sehen muss, wieviel Flüssigkeit wir vielleicht immer noch verlieren. „Hey Mr. King, now you are Mr. Bad Driver, eh?“ sagt Ping lachend zur Begrüßung. Ich sage 1000 mal sorry, versichere, dass ich alle Schäden bezahlen werde, werfe ihr den Autoschlüssel zu und suche schnell Trost an der nächsten Straßenbar mit einem noch schnelleren Thai Whiskey und versinke für den Rest des Tages in Selbstmitleid.

Aber das lassen die Girls natürlich nicht zu, sondern spendieren mir einen ultrascharfen Papayasalat, so dass ich vor lauter Schwitzen, Tränen und Lachen die ganze Schmach schnell vergessen kann …

GIN & TONIC UND BLUTVERGIESSEN

Manchmal ist es schwer auszuhalten. Während ich im Schatten am Pool einen Gin & Tonic genieße, sterben wenige Kilometer von hier entfernt 3 Menschen bei einem Drive-by Shooting in Trat, einen Tag später verlieren 2 Kinder bei einem Granatenanschlag in Bangkok ihr Leben, just als sie ein beliebtes Fastfood-Restaurant in einer Shopping-Mall im Herzen der Stadt verlassen. Ein weiteres Kind schwebt noch immer in Lebensgefahr, es wird seine Hirnverletzungen wohl kaum überleben. Ein paar Tage zuvor hatte ich selbst noch dieses Einkaufszentrum besucht.

Die politische Krise hat sich zu einer tragischen menschlichen Krise ausgeweitet, die Ignoranz der verantwortlichen Politiker ist bodenlos, die Weigerung, sich an einen Tisch zu setzen und zu verhandeln kostet mittlerweile täglich Menschenleben, das Land befindet sich an der Schwelle zum Bürgerkrieg.

Anders als in den Jahren zuvor, in denen man sich als Besucher möglichst nicht in die politischen Verhältnisse Thailands einmischen wollte oder sollte, werde ich in diesen Wochen überall mit den Konsequenzen einer irren, verfahrenen Politik konfrontiert, und viele Einheimische wollen auch mir gegenüber nicht mehr schweigen angesichts der verzweifelten Lage des Landes und seiner zutiefst gespaltenen Bevölkerung. Aber auch blinder Hass und Intoleranz verbreiten sich in erschreckendem Tempo in einem Land, in dem die Liebe zum König und ein solider Nationalstolz jahrzehntelang den Zusammenhalt garantiert haben.

Wie üblich litten von Anfang an vor allem die Arbeiter und Geringverdiener unter der Krise, weil sie durch die Blockaden der Regierungsgegner von der Ausübung ihrer Arbeit abgehalten wurden. Es leiden die verarmten Reisbauern, weil sie um den von der Regierung garantierten Abnahmepreis betrogen werden, was in den letzten Wochen Dutzende Selbstmorde nach sich zog. Und mittlerweile werden wahllos unbeteiligte Kinder von unbekannten Attentätern niedergemetzelt.

Ich habe geweint, als ich heute Morgen die Nachrichten las, und am Abend habe ich eine thailändische Bekannte getröstet, in dem ich einfach schweigend ihre Hand hielt nachdem auch sie während unseres Gespräches über die jüngsten Geschehnisse ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. „Morgen könnten es meine Babys sein, die auf der Straße sterben“ sagt sie.

Manchmal ist es schwer auszuhalten, dass ich trotzdem meine Reisezeit, das Leben in diesem tropischen Land genieße, aber ich fühle mich schuldig, weil ich nicht handeln kann, um irgendetwas zu verändern.

„Es ist gut, dass du hier bist und hier bleibst“ sagen jedoch meine thailändischen Freunde, es blieben so viele Touristen dem Land fern, und das verschlimmere die Lage für die vielen Menschen, die mit ihren Einnahmen aus dem Tourismus von der Hand in den Mund leben, gewaltig. Und es sei wichtig für sie, dass ich mein Lächeln nicht verliere.

Der einsame Gitarrist in der nur spärlich gefüllten Strandbar kündigt seinen nächsten Song an: „This one is for my friends who died in Trat and Bangkok this week“ und er intoniert einen Eric Clapton-Klassiker „I know there’ll be no more tears in heaven“. Das ist besser, intensiver als jede Schweigeminute. Tags darauf lese ich in einer thailändischen Tageszeitung, dass Mr. Clapton sein für nächste Woche angekündigtes Konzert in Bangkok aufgrund der politischen Lage abgesagt hat.

DAS BETTELMÄDCHEN UND DER ZAHNLOSE ROCKER

Letzte Nacht hab ich mich beklauen lassen. Wieder in einem Straßenrestaurant. Wieder war ein Kind im Spiel. Ich weiß, warum ich den Bettelmädchen nichts mehr gebe und mich überhaupt nicht auf irgendein Gespräch einlasse. Bei dem Raub vor 2 Jahren in Bangkok  hatte auch alles mit einem Bettelmädchen angefangen. Erst hab ich ihr eine halbverwelkte Rose abgekauft, dann mit ihr Vier-Gewinnt gespielt, und schwupps, saßen 2 Damen mit am Tisch und eine Stunde später lag ich bewusstlos in meinem Hotelzimmer. Ohne Geld, ohne Kreditkarten, ohne Computer, ohne Handy, ohne Sonnenbrille … den Pass hatten sie mir gnädigerweise da gelassen. Hydroxicin hieß dieses fantastische Antihistaminikum, was sie mir in einem Drink verabreicht hatten – in hohen Dosen wirkt es extrem narkotisierend und macht komplett willenlos. Ich hatte ihnen ja sogar die PINs meiner Kreditkarten verraten. Man wird so hilfsbereit mit Hydroxicin. Beim medizinischen Screening im Samativej Hospital, welches ich zum Glück rechtzeitig nach dem Überfall durchführen ließ, konnte das Zeug in meinem Blut nachgewiesen werden. Wo es definitiv nicht hingehörte. Hydroxicin wird gerne vor OPs zur Beruhigung der Patienten verabreicht. Eigentlich wollte ich mir in Bangkok doch gar nichts operieren lassen. Zum Glück war noch alles dran. Am nächsten Morgen war dann auch das komplette Straßenrestaurant, in dem die ganze Geschichte ihren Anfang genommen hatte, verschwunden – und offiziell hatte es das auch nie gegeben, sagte die Polizei. Aber das ist ja zum Glück schon 2 Jahre her.

Diesmal waren es nur ein paar Zettel – eine alte Visitenkarte mit falscher Adresse, die Telefonnummer eines Bargirls und ein abgelaufenes Internetticket – die das kleine Mädchen unbemerkt aus der Arschtasche meiner Jeans mopsen konnte, während sie versuchte, mir einen halb verwelkte Rose für ein paar Baht anzudrehen. Ich hatte die Papiere absichtlich in diese Tasche gesteckt, um eventuell herausfinden zu können, wann und wie so etwas passiert. Bingo! Augen auf, auch im Land des Lächelns!

Später am Abend treffe ich auf Mr. Ray. Er sitzt einsam an der leeren Strandbar. Ich nenne sie nur noch die „Lonely Bar“. Und als Alleinreisender bin ich auch einer der Loners. Mr. Ray erzählt mir, dass er aus Wiltshire komme, einem Kaff irgendwo in der Mitte von England. Bis ich diesen komplexen Sachverhalt verstanden habe, vergeht allerdings einige Zeit und Mr. Ray muss seinen Satz mehrfach wiederholen. Er hat nämlich keinen einzigen Zahn mehr im Mund und spricht einen sehr strengen britischen Dialekt, was die Kommunikation nicht gerade vereinfacht. Es ist der Vorabend seines 65. Geburtstags, verrät er mir. Ab morgen sei er Rentner, hahahaha. Bloß dass er keine Rente kriege, weil er ja selbständig gewesen sei. Er gibt mir einen Drink aus, weil ja morgen sein Geburtstag ist. Und ich höre höflich zu, als er aus seinem Leben erzählt. Beziehungsweise nuschelt. Wie er als junger Mann mit seiner Familie vom Land nach Manchester ziehen musste, und wie elend diese Stadt sei. Überall Verbrechen und Schlägereien. Ich frage ihn nicht, wie er seine Zähne wohl verloren hat. Er erzählt von seinem Pub, den er vor einigen Jahren leider schließen musste, und deshalb jetzt kein Geld für ein neues Gebiss habe. Er erzählt von seinen Urlauben auf Gran Canaria. Am Playa Ingles. Dort, wo auf einen Mann zehn Schwedinnen kommen. Ein traumhaftes Urlaubsziel, meint Mr. Ray. Vor vielen Jahrzehnten sei er drei Tage und drei Nächte lang mit einer blonden schwedischen Sängerin durch die Bars gezogen. Sie habe nach einigen Drinks immer und überall angefangen zu singen, und er mochte das sehr. Aber nach 3 Tagen war der Spaß vorbei, da ist die Sängerin abgereist. Sie musste auf Tour mit ihrer Band. Der Name der Band sei „Abba“ gewesen. Damals hatte der Bandname keine Bedeutung für Mr. Ray. Aber singen und trinken und flirten, das habe die blonde Agnetha gut gekonnt, sagt Mr. Ray.

Nach dem nächsten Bier, diesmal auf meine Rechnung, geht Ray zum einsamen Gitarristen in der Ecke des Lokals und nuschelt ihm etwas ins Ohr. Der Gitarrist stimmt ein paar Akkorde an und legt los. Und Mr. Ray singt eine grandiose, völlig zahnlose Version von Elvis’ „Blue Suede Shoes“. Rock’n’Roll in der Lonely Bar. Die Bar-Lady stellt mir noch einen Mai Tai Cocktail vor die Nase. „Don’t be sad, Mr. King“ sagt sie mit einem freundlichen Lächeln. Ich lache zurück und lasse mein Bewusstsein in der tropischen Nachthitze zwischen Meeresrauschen, wogenden Palmwedeln und den berauschenden Ingredienzien dieses Drinks ziellos und entspannt umherschwirren, während ich einen Flugdrachen beobachte, der geräuschlos von Baum zu Baum gleitet.

ABSCHIED VON 23 MÖNCHEN UND DIE STINKESOCKEN VON ABU DHABI

Meine Reise neigt sich dem Ende zu. Ich sitze in einem abgewetzten Ledersessel im Wartebereich des Bangkoker Flughafens und schreibe diese Zeilen, als eine Gruppe von dreiundzwanzig buddhistischen Mönchen, alle bekleidet mit orangen Roben und Sandalen, in einer langen Schlange an mir vorüberziehen. Das bringt jede Menge gutes Karma, hoffe ich. Ich strahle glücklich und der Khen Rinpoche, der führende Abt lächelt und winkt mir freundlich zu und ruft ein herzliches „Good Luck for you, Sir“ herüber. Anschließend begebe ich mich zutiefst beglückt, ja nahezu erleuchtet zum Gate und verlasse Thailand mit einer vielleicht verfluchten Boeing 777, aber zumindest mit dem Segen der Mönche. Besser geht’s nicht. Dachte ich, bis ich in Abu Dhabi Zwischenstation machte. Zum Glück habe ich mich schon an das dortige faschistoide Securitypersonal gewöhnt. Man wundert sich tatsächlich, dass die Sicherheitsscheichs dort keine Hakenkreuzarmbinden tragen. Ich füge ich mich ihrem Geschrei (denn sonst schreien sie noch lauter und noch unverständlicher) und finde das Ende der kilometerlangen Menschenschlange vor der Sicherheitskontrolle im Nachbarterminal. Während ich hier wie Schlachtvieh in der Warteschlange eine geschlagene Stunde im Schneckentempo vorrücke, beobachte ich immer wieder, wie superclevere Mitreisende die Schlange umgehen wollen, und sich ganz vorne vor der Kontrolle wieder einzufädeln versuchen … aber die Securityscheichs sind harte Hunde, sie fangen jeden ab und die Araber-SS-Schergen führen die Bösewichte dann wieder zum Ende der Schlange. Als diese Demütigung endlich überstanden ist, suche ich mir wie im vergangenen Jahr einen Platz im thailändisch geführten Hippopotamus-Pub im Terminal Drei aus, wo man an der Theke gepflegt ein frisch gezapftes Stella-Artois oder eins von den anderen 20 frischen internationalen Bieren zwitschern kann. Nach einem netten Plausch mit dem freundlichen Bedienpersonal erstürmt plötzlich eine Gruppe von gefühlten eintausend übernächtigten, verwirrten und völlig unpassend in Badelatschen und Boxershorts oder Wanderschuhen mit Knickerbockern gekleideten Reisenden die zweite Etage des Terminals, wo sich der Pub leider in der direkten Einflugschneise befindet. Binnen Sekunden ist das Personal völlig überfordert – nicht weil so viele Leute etwas bestellen wollen, nein, weil diese blinde, taube Masse von Menschen versucht, die Restaurant-Küche zu entern, denn viele halten die Schwingtür mit der Aufschrift STAFF ONLY für den Kloeingang, andere zünden sich in der Ecke des Speisesaals unter übergroßen Nichtraucherschildern Zigarren an, weil sie den Pub für den Smokers Salon halten. Beherzt greift das Personal auch ein, als ein paar Deutsche Touristen damit beginnen, ihre verdreckten Socken, die sie hier im Restaurant zum ersten mal seit 72 Stunden zu wechseln scheinen, zum Trocknen auf den Restauranttischen auszubreiten versuchen. Ein älterer Engländer, der sich wohl noch immer in Pattaya wähnt, will sein Bier mit seinen letzten thailändischen Baht-Münzen bezahlen und fragt die Bedienung, ob sie mit auf sein Zimmer kommen will. Erschrocken halte ich mich zuerst nur stumm an meinem Bier fest, dann aber helfe ich mit, den vielen Verwirrten die Wege zu Toiletten, Ruheräumen und Raucherzimmern zu weisen, um das Personal zu entlasten und irgendetwas zu unternehmen gegen diese schlimmen Szenen, die einen schalen Geschmack in meinem Bier hinterlassen haben …

März 2014