East End 2002-2003
Dokumentarfilm | Aachen | Produktion: braincells. & Stadt Aachen
Ein 32-minütiger Dokumentarfilm über das Ostviertel der Grenzstadt Aachen.
Struktureller Wandel, der Zuzug von Migranten und soziale Spannungen sind signifikante Probleme in diesem Stadtviertel. Wie gehen die Bewohner in dieser ghettoartigen Atmosphäre von Isolation, permanentem Zerfall, kulturellen Diskrepanzen und mehr oder weniger verstecktem Rassismus mit ihrem Leben um?
Die sehr lange Drehzeit von über 18 Monaten ermöglicht einen eindringlichen Blick auf die Menschen des Ostviertels und ihre Entwicklung in dieser Zeit. Wie sehen und beschreiben sie sich selbst? Wie urteilen sie über sich und ihr Viertel?
Das Projekt wurde unterstützt von der Stadt Aachen [Stadtteilbüro Aachen-Ost], dem Land NRW und der Bundesrepublik Deutschland. Die Dokumentation wurde ausserdem 2004 bei tv.nrw zum ersten Mal im Free-TV gezeigt.
©braincells 2002
„Irgendwie ist das Ostviertel ein Club für sich“ sagt der Frührentner Hans-Wolfgang Alt. Über einen Zeitraum von 15 Monaten begegneten die Filmemacher den Menschen im Aachener Osten: Geschäftsleute, Geistliche, Gastwirte, Bewohner, Musiker, Pädagogen, Sozialarbeiter, Kinder, Jugendliche und Erwachsene – sie alle wurden befragt, wie sie das Leben in ihren Stadtvierteln wahrnehmen: Denn der Aachener Osten, bestehend aus den Stadtteilen Ostviertel und Rothe Erde, genießt nicht den besten Ruf.
Hinter offiziellen Begriffen wie „Strukturschwäche“ oder „Quartiere mit besonderem Erneuerungsbedarf“, mit denen der Aachener Osten oft bezeichnet wird, verbergen sich eine Vielzahl von Problemen: Die starke Zersiedelung der Viertel durch das Nebeneinander von Wohn-, Gewerbe-, Industrie- und Verkehrsflächen, der hohe Ausländeranteil in der Bevölkerung, ein niedriges Bildungsniveau, hohe Arbeitslosigkeit und zunehmende Armut.
Hinter diesen Schlagworten jedoch zeigt sich ein buntes Mosaik unterschiedlichster Menschen mit ihren Meinungen, Lebensauffassungen und Schicksalen. Aus dieser Vielfalt ergibt sich ein differenzierter Blick auf die Probleme und Chancen des Aachener Ostens; der einzigartige Charakter dieses Stadtteils wird durch diese Perspektive sichtbar.
Für die Einen nahezu zum Ghetto verkommen, stellt für Andere das multikulturelle Miteinander im Osten den besonders attraktiven Reiz dar. „Klein-Istanbul“ wird die Elsassstraße von den türkischen wie den deutschen Anwohnern gern genannt.
Für ältere deutsche Menschen ist der hohe Ausländeranteil Grund genug, dem Viertel den Rücken zu kehren, junge Deutsche wiederum ziehen gerade deshalb in die Stadtteile oder haben unter den Migranten ihre besten Freunde gefunden.
Während einzelne türkische Mitbürger einen Teil Deutschlands allein für die Migranten fordern: „Hälfte von Deutschland gehört uns!“, sehen sich andere Bewohner als „Weltbürger“ in einem integrativen, multikulturellen Umfeld. Im bunten Treiben beim alljährlichen Multikultifest und bei den spontanen Feiern zur Fußball-WM finden sich Menschen unterschiedlichster Nationalitäten und Ansichten zusam- men, um gemeinsam auf sehr „südländische Art“ zu feiern – so etwas erlebt der Aachener auch nur im Osten der Stadt.
Vor diesem Hintergrund beleuchten die Ausführungen eines Schuldirektors und eines türkischen Intellektuellen mit deutschem Pass sowohl die Probleme der Migranten in Deutschland als auch die (bildungs-)politischen schweren Fehler vergangener Jahre.
Der Film untersucht, mit welchen Konzepten Kirche und Moschee den Bedürfnissen dieser multi-ethnischen Lebensgemeinschaft begegnen. Deutlich wird hier, dass sich Christen und Muslime der speziellen Situation im Aachener Osten angepasst haben und schon länger Annäherung, Austausch und Kooperation untereinander praktizieren.
Manch persönliche Entwicklung wurde in der 15-monatigen Drehzeit sichtbar: So hat es Ex-Boxmeister und Eismann Mario Guedes mit viel Engagement geschafft, Boxsportangebote für den Aachener Nachwuchs im Osten zu schaffen. „Wir haben hier so viel Potential, und dieses Potential sollte man nutzen!“ [Guedes]. Mittlerweile begeistern sich viele Bewohner des Viertels für das Trainingsangebot und die öffentlichen Boxkämpfe im Josefshaus.
Tragisch auch das harte Schicksal der Famile Alt: Während des mutigen Kampfes gegen seine tödliche Krebserkrankung, erlebte Hans-Wolfgang Alt mit dem Unfalltod seines Sohnes Hans-Jürgen eine weitere Familientragödie.
Kritisch hinterfragen die Filmemacher das Engagement des Immobilien-Investors Norbert Hermanns, der auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs Rothe Erde Aachens größte Shopping Mall errichten will. Hermanns sieht in dem Megaprojekt, welches er euphemistisch „Stadtteilzentrum“ nennt, eine bedarfsgerechte Aufwertung des Stadtteils und spricht in diesem Zusammenhang von der verantwortungsvol-len Ethik des Investors. Allerdings wird der gemeinnützige Verein LOBBY e.V., der in einem Teil der Gebäude das Erzählcafé und die Kleiderkammer für arme Menschen betreibt, seine Heimat verlieren. Lassen sich kommerzieller Ehrgeiz und soziale Verantwortung mit dem Bau eines Konsumpalastes wirklich vereinbaren?
Fakt ist: Die beiden Stadtteile wurden in den letzten Jahrzehnten politisch stark vernachlässigt, in Rothe Erde wurde der Zuzug der sozial Schwächsten durch die Konzentration von Sozial- und Obdachlosenwohnungen sogar forciert. Aber neben einzelnen Stimmen der Hoffnungslosigkeit hinsichtlich einer zukünftigen positiven Entwicklung, treffen wir Menschen, die für Verbesserungen kämpfen. Nicht zuletzt das Projekt „Stadtteilerneuerung Aachen Ost“ soll Impulse geben, wie die Probleme in den Quartieren gelöst werden können – dazu wird das Engagement der Bürger gefordert, sich selbst zu organisieren, um ihre Interessen durchzusetzen – denn Vertrauen in Politiker, die sich nur alle paar Jahre zum Wahlkampf fähnchenschwenkend und mit Rosen bewaffnet in den Osten wagen, hat hier kaum jemand mehr.
Der 30-minütige Dokumentarfilm des Aachen-Kölner Filmemacher-Duos Lohrmann & Fischer entstand auf Initiative des Stadtteilbüros Aachen Ost und wurde gefördert mit Mitteln der Bundesrepublik Deutschland, des Landes NRW und der Stadt Aachen. „EAST END“ richtet sich in erster Linie an die Bewohner der Quartiere, er soll zur Diskussion anregen und die Eigeninitiative in der Gestaltung des persönlichen Umfeldes fördern.
Die Filmpremiere am 23.5.2003 wurde begleitet von einer Fotoausstellung von Frank Trompetter: 12 Monate lang hat der Fotograf das Filmteam bei der Arbeit begleitet. Trompetters Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen einfühlsame Porträts und spannende Momentaufnahmen aus dem Aachener Osten.
Anschließend wurde der Film im Unterricht an Aachener Schulen und an der Fachhochschule Aachen im Studienbereich Sozialpädagogik eingesetzt.
© Frank Trompetter 2002