Wo die Zeit stillsteht
Bloß kein Stress zwischen Jägerzaun und Gartenzwerg
Max Pape relaxt in seinem geblümten Liegestuhl. Bekleidet nur mit einer lindgrünen Jogginghose, dämmert er im Halbschatten zwischen Vorzelt und Pergola auf seiner Parzelle auf dem Campingplatz Hellenthal. Seine Frau ruft ihm aus dem Inneren des Wohnanhängers zu, wo er die Grillwürste bloß versteckt habe. Dabei kramt sie lautstark in der engen Küche des Globetrotter 480, eines stattlichen Caravans der Marke Dethleffs, Baujahr 1979. Als Max Pape uns vor dem Jägerzaun, der seine Parzelle umgrenzt, entdeckt, fragen wir ihn, ob er seinen Campingwagen auch noch zum Reisen benutze. „Nööö,” meint der ältere Herr, „der steht hier seit 30 Jahren fest. Solange hat der keine Straße mehr gesehen.”
Bei den Dauercampern stehen nicht nur die Wohnwagen still, hier scheint auch die Zeit eingefroren: Die einstigen „Yachten der Landstraße”, große Caravans – meist aus den 1970ern oder 80ern – stehen jetzt, eingemauert und von Lattenzäunen und festungsähnlichen Vorzeltkonstruktionen eingerahmt, unbeweglich in ihren Parzellen. An den überall anzutreffenden Gartenzwergen nagt der Zahn der Zeit. Allerlei Nippes aus dem letzten Jahrhundert und ausgeblichene Deutschland-Flaggen scheinen ebenso unverzichtbare Accessoires wie die betont legere Kleidung der Freizeitcamper: Trainingsanzug oder Badehose meist im Stil vergangener Epochen.
„Das ist Freiheit: Man kann aufstehen, wann man will, man kann rumlaufen wie man will”, sagt Frührentner Erwin Kess. Hier lassen sie den ganzen Tag ohne einengenden Zeitplan und den üblichen Alltags-Stress die Seele baumeln, soziale Zwänge und Kleiderordnung scheinen hier nicht existent. Das ist in den Augen der Camper das Besondere an ihrer Art der Freizeitgestaltung. Auf dem Campingplatz können sie Mensch sein und ihre wahre Persönlichkeit ausleben. „Zuhause will ich diesen Nippes gar nicht, da soll’s ja ordentlich aussehen”, meint Kess. „Und da musst du schon gucken, wie du angezogen bist.”
Doch ursprünglich war alles ganz anders. Camping bedeutete einst Mobilität, Modernität – und somit das Gegenteil von Stillstand. Camping in Europa hat seinen Ursprung in der Kanubewegung: In den 1920er und 30er Jahren erkundeten vor allem Jugendliche die Heimat paddelnd, am Ufer der Flüsse schlugen sie abends ihre Zelte auf. Doch schon bald wünschten sich die naturverbundenen Reisenden etwas mehr Komfort: Der erste Caravan in Deutschland wurde von Firmengründer Arist Dethleffs im Jahr 1931 gebaut und ging fünf Jahre später in Kleinserie. Bis zum großen Erfolg der Wohnanhänger dauerte es jedoch noch mehr als vier Jahrzehnte. In der Nachkriegszeit entdeckten die Deutschen zunächst das Campen als preiswerte Urlaubsmöglichkeit für die ganze Familie. Besonders beliebt waren kleine, oft falt- oder klappbare Caravans wie die Knospe, der Tourist und der Nomad – allesamt putzige Wirtschaftswundermodelle.
Der Boom des Caravanings und die Zeit der großen Wohnanhänger begann in Deutschland zu Beginn der 1970er, der gestiegene Wohlstand manifestierte sich auch in den Namen: Lord, Camper Luxus, Prestige und Hobby Deluxe hießen die bis zu sieben Meter langen Mobilunterkünfte. Diesen neu gewonnen Komfort wollten die Carvaning-Fans auch ganzjährig nutzen. Zudem konnte man ein solches Schlachtschiff kaum mehr in der Garage oder im eigenen Garten abstellen. So suchten sich viele Mobilurlauber einen idyllischen Stellplatz, möglichst nicht zu weit von zu Hause entfernt, und mutierten zu Dauercampern. „Die Straßen wurden immer voller, immer mehr Staus, der ganze Stress mit dem Auf- und Abbauen, darauf hatten wir keine Lust mehr”, beschreiben die ehemaligen mobilen Camper das Ende des Herumzigeunerns.
So entstand eine neue Freizeitwohnform, die von „echten” Campern gerne belächelt wird, da selbst die letzte Gemeinsamkeit der Reise- und Dauercamper längst geopfert wurde: Die große Liebe und Nähe zur Natur verliert sich, wenn jeden Samstag der Rasen der Parzelle mit dem Benzinmäher lautstark gestutzt und die Stiefmütterchenrabatte akribisch geharkt werden.
Und der Rest der landschaftlichen Idylle präsentiert sich häufig getrübt durch den Lärm nahe liegender Autobahnen, Schnellstraßen oder Bahntrassen. “Ach, das hört sich an wie Wasserrauschen” oder “Man muss doch auch mal die Ohren zumachen können!” wiegeln die Dauercamper ab. Im westfälischen Hamm-Uentrop muss sogar der Anblick der Kühltürme eines ehemaligen Atomkraftwerks ins Naturerlebnis integriert werden. “Unsere Camper strahlen” war lange Zeit das ironische Motto des Platzes.
Doch nach Jahrzehnten des Stillstands wird immer offensichtlicher: Die Dauercamper sterben aus. Wie Ampel-Willi. Ampel-Willi hatte in Hellenthal vor gut 45 Jahren sein zweites Zuhause gefunden. Um ihn zu besuchen, passierte man den Rasenplatz der Durchgangscamper, bog in das Quersträßchen „Zur Durstigen Meile“ ein, und am Ende des Weges verkündet eine geschnitzte Holztafel an einer Pergola, dass hier Ampel-Willi residierte. Eine ausgediente Verkehrsampel war unterhalb des Schildes am Lattenzaun befestigt und zeigte an, ob Ampel-Willi bereit war, Besucher zu empfangen. Bei grünem Licht durfte man die Treppen zu seiner exponierten Terrasse erklimmen, hier thronte der Mönchengladbacher vor seinem großen Caravan am Rande eines Fichtenwaldes. Doch Ampel-Willi ist verstorben, auf seiner Parzelle findet sich nur noch ein Haufen Gerümpel. So wie auf der Hälfte aller Parzellen in der „Schlucht”, dem angestammten Revier der alteingesessenen Hellenthaler Dauercamper. Die Pioniere sterben aus, und ihre Kinder und Enkel haben meist kein Interesse, den verrottenden Caravan und die pflegebedürftige Parzelle zu übernehmen. Campingplatzbetreiber Achim Hellbach in Hamm findet jedoch auch andere Gründe: “Entweder die Leute sind auf Hartz IV und können sich die Miete für die Parzelle nicht mehr leisten, oder sie sind in Arbeit und müssen bis Samstagnachmittag schuften, da bleibt dann keine Zeit, um auf den Dauercampingplatz zu fahren”.
Die letzte Verbindung zur Freiheit des Herumzigeunerns, zur europaweiten Mobilität scheint gekappt, der Trend geht zu fertigen Blockhäuschen, die von den Campingplatzbetreibern wochenendweise an junge Familien vermietet werden. Nach der langen Zeit des Stillstands ereilt die Dauercamper nun das Schicksal des Verschwindens.