Das Verschwinden der Heimat – Work in progress
Das Tagebaudesaster im Rheinischen Braunkohlerevier zwischen Aachen, Köln und Düsseldorf
Lohrmann und Fischer am Loch // ca 1995
Seit vielen Jahren beobachten wir die fortschreitende Zerstörung der Region durch Europas größtes Braunkohleförderungsprojekt – Minderwertiger Brennstoff für eine völlig unzeitgemäße und umweltzerstörerische Form der Energiegewinnung. Hier posten wir in loser Reihenfolge unsere bedrückenden Recherche-Ergebnisse aus den letzten Jahren.
Im doppelten Sinne ein “Work in Progress”.
UPDATE 20140518
Text aus 2012:
Sie nehmen uns die Heimat weg!
Wie Dörfer im rheinischen Braunkohlerevier sterben und die Einwohner vertrieben werden.
Die Straße zum Aussichtspunkt des Tagebaus Hambach führt kilometerweit an einer Lärm- und Staubschutzmauer entlang, es wirkt, als würden wir an einem Hochsicherheits-Knast vorbeifahren. Was sich wohl hinter dieser riesigen Wand verbirgt?
Vom Parkplatz in einem kleinen Wäldchen sind es noch 100 Meter zu Fuß, und als wir den Erdwall erklommen haben, der hier die Abschirmungsmauer ersetzt, stockt uns der Atem: Eine Mondlandschaft liegt vor uns, ein gigantisches Loch, es reicht links, rechts und geradeaus geradewegs bis zum Horizont. 400 Meter tief öffnet sich diese postapokalyptische Verwüstung, und gigantische Bagger, die größten der Erde, erscheinen darin wie Spielzeugmaschinen in einer außerplanetarischen Welt.
Diese gewaltigen Eingriffe in die Natur finden direkt vor unserer Haustür statt. Im rheinischen Braunkohlerevier liegen die 3 Großtagebauten Inden, Hambach und Garzweiler, von denen Hambach der größte Tagebau Deutschlands ist und dessen Grabungssohle den tiefsten Punkt des Landes markiert. Mit der angrenzenden Abraumhalde Sophienhöhe befindet sich außerdem der weltgrößte künstlich geschaffene Berg, und am Braunkohlekraftwerk Niederaußem finden wir darüber hinaus den mit 200m höchsten Kühlturm der Erde.
Bei all der Superlative wird schnell klar: Hier wird mit gewaltigen Eingriffen in die Natur massives Terraforming betrieben, das nicht nur weitreichende Folgen für die Landschaft und unser Ökosystem mit sich bringt, sondern hier sind ganz unmittelbar Tausende Menschen in unserer Nachbarschaft betroffen!
Zwischen Weisweiler und Düren folgen wir einer einsamen Landstraße auf der Suche nach dem Ort Pier, einem Stadtteil der Gemeinde Inden. Schilder an der Bundesstraße 56 weisen den Weg, doch schon am Ortseingang überfällt den Besucher ein gruseliges Gefühl: Man sieht keine Menschen auf der Straße, kein Auto parkt am Straßenrand. Unter verwitterten Reklametafeln des Bäckers und der Metzgerei sind die Schaufenster vernagelt, alle Rollläden im Ort sind herabgelassen. Der ganze Ort ist gespenstisch verlassen. Am Ortsrand entdecken wir vereinzelte Häuserruinen, hier warten Planierraupen und Radlader darauf, die Reste der ehemaligen Einfamilienheime einzusammeln. Daneben erkennt man Parzellen, auf denen vor kurzer Zeit noch Menschen wohnten, hier haben letztes Jahr noch Kinder auf der Straße gespielt – alles ist verschwunden, selbst die Straßenschilder. Nur das Navigationssystem verrät uns, dass dies die Professor-von-Capitaine-Straße ist, die Hauptschlagader des Pierer Neubauviertels aus den 50ern.
Pier befindet sich im Zustand der „Wüstung“. Wie zuvor schon andere Ortsteile Indens, muss das Dorf dem Tagebau weichen, zusammen mit seiner 1200jährigen Geschichte. Und mit ihm alle Einwohner, ehemals 1300. Dabei war Pier erst im 2. Weltkrieg nahezu ausgelöscht worden: “Not a stone upon a stone”, “Nicht ein Stein auf dem anderen” verkündeten amerikanische Soldaten über “Pier/Germany” 1945.
Heute wohnen noch ca. 50 Menschen in der Geisterstadt, sie wollen bis zum Schluss bleiben, ehe sie ihren Nachbarn ins “neue” Pier in Langerwehe folgen: eine Neubausiedlung, ohne Erinnerungen, ohne Geschichte, ohne Emotionen.
Der Verlust von Geschichte und Identität einer ganzen Ortschaft ist auch nicht zu kompensieren, in dem versucht wird, möglichst alle Menschen an einen gemeinsamen neuen Ort umzusiedeln – denn das Sterben der Gemeinde beginnt nicht erst mit dem Abbaggern, sondern bereits Jahre zuvor, mit der Planfeststellung der Umsiedlung – ab diesem Zeitpunkt gibt es offiziell keine Zukunft mehr für das Dorf, Firmen wandern ab, Investitionen bleiben aus, Entwicklung stagniert – der schleichende Tod setzt ein.
Das deutsche Bergrecht gibt dem Staat und seinen beauftragten Energiekonzernen wie RWE das Recht, Orte zu requirieren und zu devastieren, die ihrer Rohstoffausbeutung im Wege sind – dabei werden die Einwohner zwangsenteignet und nur mit dem Zeitwert ihrer Häuser und Grundstücke entschädigt – weshalb man sich im neuen Siedlungsgebiet in der Regel kleinere Grundstücke und weniger Wohnfläche leisten kann. Das Enteignungsverfahren ist nach der Konzessionserteilung für die Tagebaumaßnahme nicht mehr aufzuhalten, selbst die Sammelklage von 19.000 Betroffenen gegen die vorerst letzte Erweiterung des Tagebau Hambachs wurde im Juni 2010 abgewiesen.
Das geplante Gebiet des Tagebaus Garzweiler II wurde nach zahlreichen Bürgerprotesten zwar verkleinert und soll ab 2045 mit einem gigantischen See rekultiviert werden. Doch Wirtschaft und Politik feiern derzeit ein Comeback der Braunkohle. Dieser höchst ineffiziente fossile Brennstoff wird angesichts der rasant steigenden Nachfrage in Indien und China als unverzichtbarer Energieträger favorisiert, obwohl er wegen seine gewaltigen CO2 Emissionen als einer der schlimmsten Klimakiller bekannt ist. Die längst fällige Wende hin zu erneuerbaren Energien wird weiter ausgebremst und vielleicht werden die vorerst geretteten Dörfer Wanlo, Venrath, Kaulhausen, Wockerath dann doch noch abgebaggert. Am Ende der geplanten Abbauzeit Mitte des 21. Jahrhunderts werden erst 5 Milliarden Tonnen der unter dem dicht besiedelten Rheinland lagernden Braunkohle gewonnen sein – Es warten noch weitere 50 Milliarden Tonnen, deren Ausbeutung zur Zeit noch unrentabel wäre.
“VORWEG GEHEN” lautet der aktuelle Werbeslogan der RWE Power. Das kann nur als Drohung gemeint sein, wenn man das rasante Fortschreiten der Landschaftszerstörung zwischen Aachen, Köln und Grevenbroich beobachtet.
Wir stehen am Rand des Hambacher Lochs bei Buir und schauen dem Schaufelradbagger 255 beim Betrieb zu. Hier treffen wir ein älteres Ehepaar. “Ich wollte meiner Frau zeigen, wie nah die Bagger jetzt schon sind”. Das Paar lebt im nahen Dorf Manheim. Der Ort wird ab 2013 geräumt und anschließend devastiert werden.
Lohrmann am Loch // Juni 2012 // Foto: Yannik Tiemann