Zeitmaschine Kino

Über die Brüche des Raum-Zeit-Kontinuums im Film

Fischers Zeitmaschine

 Herr Fischer und ein Bauer B-8 35mm-Filmprojektor von 1937

Wenn wir im Kino einen Historienfilm wie Ben Hur oder Gladiator erleben, oder einen Science-Fiction wie 2012 oder Avatar, dann reisen wir in eine nie erlebte Vergangenheit oder in eine unbekannte Zukunft. Oft sind die Apparate, welche uns das Springen von Epoche zu Epoche erlauben, oder die sekundenschnelle Reise zu Lichtjahre entfernten Orten ermöglichen, sogar selbst Thema oder Hauptmotiv der filmischen Erzählung – von Zurück in die Zukunft über die Zeitreisen im Star-Trek-Universum bis zu den zahlreichen Adaptionen von H.G. Wells 1895 erschienenem, fantastischem Roman Die Zeitmaschine.

Im Kino werden wir von den Fesseln der tatsächlich vergehenden Zeit, von der unbarmherzigen Chronologie unserer Realität, befreit. Das geschieht nicht nur durch das gewählte Sujet. Die Organisation von Zeit und ihre Darstellung ist ein wesentliches Merkmal des Films – eine Tatsache, die uns bei der Opulenz der übergroßen Bilder im Kino und eines mitreißenden Soundtracks häufig entgeht. Im Gegensatz zur Malerei, Bildhauerei und Fotografie, spielt der Umgang mit Zeit in der Filmkunst eine entscheidende Rolle.

Es ist nicht nur die visuelle Kraft des Kinos, die uns in andere Zeiten versetzt, sondern auch die Art und Weise, wie ein Film mit der Dimension Zeit auf den verschiedensten Ebenen spielt:

Erzählzeit vs. Erzählter Zeit, Chronologie der Ereignisse vs. Anachronie der Erzählung sowie technische Instrumente zur Dehnung oder Raffung der Zeit sind wichtige, meist nur unbewusst wahrgenommene Gestaltungskriterien eines Films.

Die frühen Filme Ende des 19. Jahrhunderts bestanden aus einer einzigen langen Einstellung. Die erzählte Zeit – das, was erzählt wird – und die Erzählzeit – die Dauer des Films – waren identisch. Mit der Film-Montage entwickelten die Filmemacher ein Gestaltungsinstrument, das nicht nur durch verschiedene Einstellungsgrößen Abwechslung schaffte und Aufmerksamkeit lenkte. Es revolutionierte zusätzlich den Umgang mit Zeitabläufen innerhalb der Erzählung. Durch den Filmschnitt wird die Erzählung gerafft, Teile der Handlung können ausgelassen werden. Diese Technik stellte die Zuschauer vor die Herausforderung, die fehlenden Inhalte zu ergänzen. Heute nehmen wir die elliptische Erzählweise als selbstverständlich hin. Betritt eine Figur in einer Einstellung einen Wolkenkratzer und öffnet sie in der nächsten Einstellung die Tür zu einem Büro im 28. Stockwerk, dann wissen wir – auch ohne es gesehen zu haben – dass sie am Empfang vorbei einen längeren Weg durch das Gebäude, vielleicht ein paar Treppenstufen nehmend und einen Lift benutzend, zurückgelegt hat. Solche Zeitraffungen ermöglichen es, komplexe Stories und lange Lebensgeschichten, sogar Erzählungen über mehrere Generationen, spannend über den Zeitraum von nur wenigen Stunden zu vermitteln, wie in Sergio Leones Es war ein mal in Amerika oder Abbitte nach Ian McEwans Roman.

Die Echtzeit-TV-Serie 24 – Twenty Four ist neben Hitchcocks Krimiklassiker Cocktail für eine Leiche eine der seltenen Ausnahmen, in denen die erzählte Zeit  der Handlung mit der Erzählzeit des Films oder der Serienfolge weitestgehend identisch sind.

Die wenigsten modernen Filme erzählen die Handlung jedoch in chronologischer Abfolge. Rückblenden und Vorausschauen, oder Zeitsprünge allgemein, sind gängige Methoden, zusätzlich Dramatik und Spannung zu erzeugen. Obwohl, oder gerade weil der Zeitfluss unterbrochen ist, werden wir als Zuschauer gefesselt und in das Geschehen hinein gesogen.

Hingegen sind bei der Parallelmontage zeitgleich an verschieden Orten stattfindende Ereignisse miteinander verschachtelt. Dadurch verlangsamt sich die wahrgenommene Zeit und wird gedehnt – wie im Westernklassiker High Noon/12 Uhr Mittags, als der Marshall, völlig alleingelassen, eine gefühlte Ewigkeit auf die Ankunft des Zuges mit den Ganoven wartet.

Die Zeitebenen können sogar bis zur Undurchschaubarkeit vermischt werden: In Quentin Tarantinos Pulp Fiction mussten wir lange rätseln, wie – und ob überhaupt – die einzelnen Episoden zusammenhängen. In Christopher Nolans Memento wird eine starke Desorientierung – und gleichzeitig außerordentliche Spannung – dadurch erzeugt, dass einer der Handlungsstränge komplett rückwärts erzählt wird. Völlig orientierungslos bleiben wir als Zuschauer, wenn in achronischer Erzählweise keine Zuordnung zu den „wirklichen” zeitlichen Abläufen mehr möglich ist – wie innerhalb der LSD-Trip-Sequenz in Dennis Hoppers Easy Rider.

Schließlich sind technische Tricks wie Zeitlupe und Zeitraffer weitere Stilmittel, die uns ein alternatives Zeitgefühl vermitteln. Ultralangsame Vorgänge, die sich unserer Beobachtung normalerweise entziehen, können durch die starke Beschleunigung der Bildfrequenz sichtbar gemacht werden: das Aufblühen einer Blume oder die komplexen Bewegungen in einer Mega-City, wie sie erstmals 1982 in dem bahnbrechenden Dokumentarfilm Koyaanisqatsi gezeigt wurden. Die Zeitlupe hingegen verlangsamt die gezeigten Vorgänge, hier kommt die Zeit nahezu zum Stillstand. Die Slow-Motion offenbart nie wahrgenommene Bewegungsdetails: als Bullet-Time perfektioniert in den Matrix-Filmen. Oft ist diese Technik im Spielfilm verbunden mit der Darstellung von Gewalt: der Moment des Sterbens im Italo-Western. Außerdem kann sie extreme psychische Zustände suggerieren oder in der Dokumentation erfahrbar machen, meist durch Nahaufnahmen von Gesichtern: als Super-Zeitlupe gern gezeigt bei der Fußball-WM in Südafrika.

Wenn der Film als einziges Medium in der Lage ist, die Zeit derart zu manipulieren, dass sich diese Befreiung aus dem Korsett des Raum-Zeit-Kontinuums wie unsere echte, subjektiv empfundene Zeit anfühlt, stellt sich die Frage: Was ist Realität, was ist Film, was ist Erinnerung? Ist der Film, so fiktional er auch sein mag, nur eine Verdichtung unserer wirklichen Erfahrungen? Ist das Kino die technische Umsetzung der neurologischen Funktionsweise unseres Gedächtnisses? Schauen wir alle nicht ständig einen Film, in dem wir selber die Hauptrolle spielen? Gehen wir also ins Kino, um das wahre Leben zu erleben!

Published 2010 im Magazin “Karlzwei”, Ausgabe “Zeit”

Heiko Fischer